Ein Wechselbad der Gefühle

Charkiw ein Vierteljahrhundert nach der Unabhängigkeit der Ukraine – Die Kluft zwischen Stadt und Land wächst - Fritz Körber war Redner bei den Feierlichkeiten zum Kriegsende im ukrainischen Dorf Rakitnoje

Seit einem Vierteljahrhundert ist der frühere Schwaiger Bürgermeister und Bezirkstags-Vizepräsident a.D. Fritz Körber in humanitärer Mission für die Arbeiterwohlfahrt in Charkiw unterwegs. Die 1,5 Millionen Einwohnerstadt liegt im Osten der Ukraine. Das Land befindet sich derzeit in einer entscheidenden Phase, es ist durch die völkerrechtswidrige Besetzung der Krim durch Russland und den anschließenden Krieg destabilisiert. Körber beschreibt einen zunehmenden Kontrast zwischen der verbreiteten Armut und neuem Reichtum, zwischen Provinz und Metropole. Mit ihm unterwegs waren erneut die langjährigen Mitstreiter Kurt Bauer, Edgar Völkel und Roland Seitz von den Naturfreunden Lauf sowie der Unternehmer Dr. Hannes Zapf in seiner Eigenschaft als Präsident des Rotary-Clubs Nürnberg-Kaiserburg.

 

Unser Flug bringt uns von München über Warschau nach Charkiw. Von der Landung auf dem fast neuen Flughafen bekomme ich kaum etwas mit. Zu oft bin ich in den letzten Jahren hier schon gelandet, als dass ich mir vorgenommen hätte, sie aufmerksam zu verfolgen. Es geht uns allen gleich: Etwas ungläubig nehmen wir zur Kenntnis, dass wir wieder in Charkiw sind. Bei der Sicherheits-kontrolle wird Kurt Bauer gestoppt. Er hat eine größere Menge Medikamente für das Krankenhaus Nr. 16 im Koffer. „Medikamente für an Krebs erkranke Kinder“ gibt er als Erklärung ab. Kurze Überprüfung und korrekte Passkontrolle durch Zollbeamte, die nach russischem Vorbild riesige Dienstmützen tragen. Iwan Nemitschew und Yvonne Brinzjuk, unsere beiden Dolmetscher und Kraftfahrer Jurij Tschaplygin bilden das Empfangskomitee. Auf der Fahrt vom Flughafen ins Stadtzentrum nehme ich mit einer gewissen Verwunderung all die neuen Bauten zur Kenntnis.

 

Iwan hat alles gut vorbereitet. Selbst am Sonntag hat das Geschäft für Rehabilitationsmittel für uns geöffnet. Der schwerbehinderte Vatscheslav Petuchow erwartet uns bereits. Seit Jahren bittet er mich über die Stadtverwaltung um materielle Hilfe für die teuere ärztliche Behandlung und den Kauf von lebenswichtigen Medikamenten. Außerdem benötigt er ein Rehabilitationsgerät und eine multifunktionale Matratze. Dr. Hannes Zapf kauft den seit einem Jahr versprochenen Rollstuhl für die Klinik Nr. 26. Und weiter geht die Fahrt. Vor dem Prokowsky-Kloster steht das wuchtige Denkmal für den Frieden, das merkwürdigerweise einen T-34 Panzer und andere Kriegsgerätschaften aus dem 1. und 2. Weltkrieg im weiteren Ensemble hat.

 

Dr. Hannes Zapf und ich wohnen im Hotel, meine drei Naturfreunde Kurt Bauer, Edgar Völkel und Roland Seitz wohnen privat.  Zwischenzeitlich ist es vier Uhr Nachmittags. Bei einer Tasse Kaffee besprechen wir mit Iwan das umfangreiche Programm der kommenden Tage.

 

Die Menschen kommen ins Hotel

Der Montag beginnt mit einer Art Audienz. Yvonne ist gekommen um zu übersetzen und Awdüschew Schamiljewitsch steht schon kurz nach acht Uhr vor der Türe. Ich kenne ihn seit Jahren. Alle vier Familienmitglieder sind krank, haben zum Teil offene Tbc. Ich übergebe 150 Euro für Medikamente. Wir erleben einen Tag der Offenen Türe. Einer gibt dem anderen die Klinke in die Hand. Frau Syrkina, die die Gesellschaft behinderter Kinder im Ordshonikidzevskij-Rayon vertritt, bedankt sich für die alljährlich gewährte Unterstützung, wie auch Frau Babaij die Mutter von 9 Kindern. Und ich stelle mir die Frage, wie kann man diesen Menschen helfen? Diese Armen sind der neuen Machtelite eher lästig und peinlich. Was also tun für die Vergessenen und Hilflosen in einer eineinhalb Millionenstadt mit über 100 000 Flüchtlingen?

 

Pünktlich um 9.00 Uhr werden wir am Hotel abgeholt. Beim Gang ins Blindengymnasium „Korolenko“ stelle ich immer wieder fest, dass es in der Ukraine nicht nur arme Menschen geben muss. Da sind Autos zu sehen, die 60.000 Euro und mehr kosten. All die Porsche- und Mercedesfahrer müssen ihr Geld wohl anders verdienen, und es gibt natürlich Gewinner und Verlierer. Direktor Bilous wartet schon am Eingang. Die Blaskapelle der Blinden, begrüßt uns mit einer Willkommensfanfare und der Kinderchor und die Tanz- und Theatergruppe bieten uns ein beeindruckendes fast zweistündiges Programm. Im Anschluss werden wir zu Tisch gebeten. Es gibt  Borschtsch  und auch der Wodka fließt nach den üblichen Tischreden reichlich. Der Direktor setzt einige Male zu seiner Tischrede an, hält inne und spricht dann:  „Ohne die alljährliche finanzielle Unterstützung der AWO wäre jedenfalls vieles für die Kinder nicht möglich“. Dr. Hannes Zapf übergibt eine Spende für die Musikschule und die Freizeit von zwei blinden Waisenkindern. Ich dränge zum Aufbruch.

 

Der Nachmittag bringt uns ins Krankenhaus Nr. 16, eine Station der Hilfe, wo die Ärztin Ludmilla Marenitsch an Leukämie erkrankte Kinder betreut. Es schmerzt diese Not täglich zu sehen, diese schreckliche Armut, diese Hoffnungslosigkeit die bedrückt. Doch es sollte noch schlimmer kommen.

 

Die Chefärztin Frau Tatjana Chartschenko stellt uns fünf Frauen mit ihren an Leukämie erkrankten Kindern vor. Die Krankengeschichten der Kinder sind alles andere als hoffnungsfroh. Dr. Hannes Zapf sagt die Finanzierung eines modernen Blutanalysegerätes zu und übergibt eine größere Menge mitgebrachter Infusionsdosierschläuche. Kurt Bauer überreicht das große mitgebrachte Medikamen-tenpaket der Naturfreunde Lauf an die Klinikleitung und dankbar nimmt man unsere Spenden für die Behandlung an Blutkrebs erkrankter Kinder entgegen.

 

Keine Zeit zum Nachdenken

Wir sind wieder einmal in Zeitnot. Verspätet kommen wir bei der Rollstuhlfahrer-Organisation „Spodivanja“ an. In den Plattenbauten muss man sich allerdings darauf einstellen, dass Hauseingänge, Treppen, Briefkästen, Lifts und Sanitäreinrichtungen manchmal weit von unseren westeuropäischen Standards entfernt sind. So auch hier. Seit 25 Jahren kenne ich die Organisation und aufgeregt erzählt die selbst gehbehinderte alte Dame uns von ihren Schwierigkeiten, von der mangelnden Unterstützung seitens der Behörden, von ihrem Glauben, in dem sie tief verwurzelt ist. Dankbar erinnert sie sich an unsere seit Jahren gegebenen Geldmittel der AWO. Hannes Zapf gibt auch hier eine Spende und wünscht mir und meiner kleinen Delegation beim Abschied Gottes Segen.

 

Der Tag war lang und anstrengend. Versuche meine Gedanken zu ordnen. Vor dem zerstörten Lenin-Denkmal arbeitet eine Kolonne und setzt den von einem Motor angetriebenen Bohrer an. Ein unangenehmes Geräusch und während ich daneben stehe geht mir so manches durch den Kopf.Was einst in idealistischer Verklärung der Anspruch des sozialistischen Staates war – die Solidarität der Gemeinschaft mit den Schwachen – ist inzwischen radikal aus der Mode gekommen. Die Armen sind der neuen Machtelite eher lästig und peinlich. Was also tun für die Vergessenen und Hilflosen in einer eineinhalb Millionenstadt mit den vielen Flüchtlingen?

 

Dr. Hannes Zapf als Rotarier unterwegs

Auch dieses Mal habe er viele schöne, interessante und bereichernde Eindrücke mitnehmen können, sagt Dr.Hannes Zapf. Froh und stolz sei er, als Präsident der Rotarier Nürnberg-Kaiserburg, dass die Zusagen, die wir beim letzten Besuch im September 2015 gegeben haben, nun auch einzulösen. Die Förderung von Jugendarbeit und Berufsausbildung sei für ihn ein besonderes Anliegen, wie auch die Unterstützung von Medizinern, damit diese mit modernen Geräten noch besser ihren Dienst für andere, die ihre Hilfe benötigen, leisten können.

 

Beklommenheit war unbegründet

Wir schreiben den 9. Mai Tag des vaterländischen Krieges in der Ukraine. Wir sind eingeladen zu den Gedenkfeierlichkeiten zum 72. Jahrestag des Kriegsendes in das 30 Kilometer südlich von Charkiw gelegene Rakitnoje. Auf dem Weg dorthin kurzer Aufenthalt in Merefa. Wir besuchen das blinde Mädchen Tanja Blinowa das mir vor Jahren für die Bezahlung ihrer Operation einen Engel strickte. Tränen der Freude bei der Ankunft – wir übergeben der Mutter eine Spende der AWO – Tränen der Dankbarkeit bei der Abreise.

 

Bei unserer Ankunft in Rakitnoje großer Bahnhof auf dem Marktplatz vor Schule und Kirche. Die Schulkinder warten schon; eine heikle Mission für mich – ich bin als Redner angekündigt. Ich habe schon 1995 diesen „Siegestag“ hier miterlebt und es ist bewegend, wenn die gebrechlichen alten Menschen die den Krieg noch selbst erlebt haben, sich für diesen Tag herausputzen und wenn sie die blank polierten Orden und Gedenkmedaillen auf die oft schäbigen Jacken heften. Zuerst sprechen der Bürgermeister und der Geistliche. Ein paar Schritte weiter überreicht ein noch junges Mädchen einem Veteran mit einer schlichten Geste eine Nelke. Dem alten Mann füllen sich die Augen mit Tränen und mir fällt es nicht leicht, mich der Emotionalität dieser Szene zu entziehen.

 

Mit Beklommenheit trete ich ans Mikrophon. Wie werden die Menschen auf meine Worte reagieren? Das ganze Dorf ist zu der Zeremonie zusammengekommen, und viele der Augenpaare, die mich musterten, hatten schon als Kinder Deutsche in ihr Dorf kommen sehen, allerdings keineswegs in freundschaftlicher Absicht. Wie sich herausstellte, waren die Bedenken vor meiner Rede grundlos. In den 20 Minuten meines Vortrags erinnerte ich u.a., „ dass wir mit der stummen Armee unserer Kriegstoten über den Tod hinaus verbunden sind. Mit erschreckender Brutalität führen uns die Ereignisse im Donbass vor Augen, wie zerbrechlich Friede sein kann, wenn Hass das Handeln bestimmt. Der Jahrestag des Kriegsendes sollte uns alle daher verpflichten auf das kostbare Gut der Freiheit und unsere Verantwortung für den Frieden in der Welt. Nur wenn wir so denken und handeln, folgen wir dem stummen Ruf der Toten, zu deren Ehren wir uns versammelt haben“.  Die Menschen nahmen meine Worte mit Beifall auf, viele schüttelten mir die Hand und bedankten sich. Der Wille zur Freundschaft und das Vertrauen in eine friedliche Zukunft waren stärker als alte Ressentiments.

 

Die wirklichen Unterschiede werden erst auf dem Land sichtbar

Aber auch diesmal sind wir nicht mit leeren Händen gekommen. Beim anschließenden geselligen Beisammensein im Volkshaus übergebe ich eine Spende der AWO für die Operation von Frau Ludmila Gnidenko, eine Mutter von vier Kindern. Dr. Hannes Zapf „unser Rotarier“ gibt eine Spende für die Landmaschinenschule. Viele Menschen suchen das Gespräch.. Rakitnoje ist uns auch in all den Jahren ein Stück Heimat geworden. Unsere Gastgeber geht es vor allem darum uns etwas Gutes zu tun. Das drückt sich dann auch im Toasten aus, ohne die keine ukrainische Geselligkeit denkbar ist. Am späten Nachmittag besuchen wir den frühren Bürgermeister Konstantin Gorban in seinem kleinen Haus. Wir sprechen eine Einladung aus, geben eine Spende und ich verspreche mit meinen  Freunden wieder zu kommen; die Trennung fällt schwer, als wir zurück in die Stadt fahren.

 

Doch wir sind wieder einmal in Terminnot. Dr. Hannes Zapf hat ein Treffen mit den örtlichen Rotariern und den beiden Professoren der Poliklinik für Unfallchirurgie vereinbart. Für das Jugendprojekt des Rotary-Clubs Charkiw „Multinational“, die ca. 20 Halbwaisen und Waisenkinder aus dem Kriegsgebiet eine Freizeit ermöglichen – sagt er seine Unterstützung zu. Aber auch die beiden Professoren aus der Unfallchirurgie erhalten eine größere Spende für den Kauf von  notwendigen Operationsinstrumenten. Die junge Journalistin Galina Kuschnur ist überraschend gekommen; sie bedankt sich für die Finanzierung der Nieren-Operation ihrer kleinen Tochter Christina. Ich erhalte als Geschenk eine CD der Kinderurologie und gebe anschließend ein Interview über unsere bisher geleistete Arbeit in Charkiw.

 

Interview im Fernsehen 

Heute ist Mittwoch mein vorletzter Tag. Pünktlich werden wir um 9.00 Uhr im Hotel abgeholt. Es ist ein nicht ganz normaler Morgen. Wir hören Marschmusik und der Verkehr auf den Straßen um unser Hotel ist zum Stehen gekommen. Von der Rathausfassade hängt neben der Fahne der Ukraine eine übergroße Europafahne. Charkiw bereitet sich mit einer Generalprobe auf den Europa-Tag vor. Nach der ukrainischen Nationalhymne höre ich erstmals in der Ukraine die Europahymne und anschließend marschieren verschiedene Truppenteile im besten preußischem Stechschritt bei Marschmusik über den großen Platz.

 

Aufschlussreich ist für uns der Termin bei der Stadtverwaltung, wo wir von der stellvertretenden Oberbürgermeisterin Frau Gorbunowa-Ruban begrüßt werden. Im Beisein des ukrainischen Fernsehens verweist sie in ihrer Rede auf die starken Bande der Freundschaft zwischen der Arbeiterwohlfahrt, der Gemeinde Schwaig, den Naturfreunden aus Lauf und der Bürgerschaft ihrer Stadt. Ihr Dank galt noch einmal allen Teilnehmern und ausdrücklich den vielen Helfern, die in Deutschland sich finanziell und tatkräftig über 25 Jahre an der humanitären Hilfe beteiligt haben. Geschickt eingefügt, bittet sie mit ihren Dankesworten Dr. Hannes Zapf als Präsident der Nürnberger Rotary-Clubs erneut um finanzielle Hilfe im Gesundheitsbereich. Kurz vor der Verabschiedung gebe ich den beiden Reportern des Fernsehens ein Interview und beantworte ihre Fragen.

 

Keine Zeit zum Nachdenken

Eine vertrauenswürdige Anlaufstelle der Schwaiger AWO für die Hilfsmaßnahmen ist das Sozial-zentrum des „Moskowskij-Rayons“. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass von hier aus alle Spenden tatsächlich bei den Hilfebedürftigen ankommen. Fast 2000 Lebensmittel-Pakete wurden in den letzten Monaten an Flüchtlinge aus dem ukrainischen Kriegsgebiet, an alte Menschen, Kranke und Behinderte verteilt, die auf die Unterstützung der AWO angewiesen sind, weil die ohnehin kümmerlichen Rentenzahlungen nicht ausreichen. Nach dem Mittagessen und den üblichen Tischreden brechen wir zum nächsten Besuch ins städtische Zentrum für Frührehabilitation für geistig behinderte Kinder „Promin“ auf. Frau Direktorin Natalia Tschaplygina erwartet uns bereits. Sie habe eine neue Geschirrspülmaschine gekauft, erzählt sie uns gestenreich, jedoch fehle das Geld um den Anschluss zu bezahlen. Wir helfen auch hier und geben eine Spende. 

 

Aus der Aktualität heraus schieben wir einen weiteren Termin ein. Wir besuchen eine KH-Abteilung  für so genannte„Findelkinder“. Das Krankenhaus und die Stadtverwaltung stehen dem Elend ziemlich hilflos gegenüber. Wir werden mit Bitten und Wünschen konfrontiert. Auch hier sagen wir unsere Unterstützung zu. Doch nach alledem gehört der Abend uns. Wir sitzen zusammen und beraten das Programm für den nächsten Tag.

 

Hilfen für Menschen in bitterer Not

Es ist ein sonniger Morgen und mein letzter Tag in Charkiw. Und wieder drängt die Zeit. Abfahrt ins Kulturhaus der Miliz. Wir fahren zur Verteilung der humanitären Hilfe an 150 bedürftige Familien. Wir werden mit Beifall erwartet. 30 Euro enthält jedes Kuvert eine halbe Monatsrente. Die Bedürftigen wurden vom Sozialamt ausgewählt. Kurt Bauer, Edgar Völkel und Roland Seitz verteilen nach Aufruf das Geld. Mit bewegten Worten bedanken sich einige. Sie erzählen und fragen, sie sprechen Bitten aus, wir hören zu. Doch kaum hat jeder sein Kuvert, schart sich eine ständig wachsende Gruppe von Frauen und Männern um uns und machen aus ihrem Unmut meist gegenüber der ukrainischen Politikern kein Hehl. „Es gibt nichts Demütigenderes als betteln zu müssen“ übersetzt mir Yvonne die Worte eines Familienvaters der sich nur mühsam mit Krücken fortbewegen kann.

 

Mein letzter Termin: Begeisterung in der Armenküche „Skripka“

Mit großer Begeisterung werden wir gegen Mittag in der Armenküche „Skripka“ empfangen, wo seit Jahren die AWO an Werktagen täglich 35 Mittagessen an alte Menschen, Kranke und Minderbemittelte zur Verfügung stellt. Ich gehe durch die Tischreihen und werde von mehreren Frauen angesprochen. „Was soll ich denn machen“, sagt eine alte Frau, „meine Rente reicht einfach nicht aus“. Im Mund hat sie nur ein paar Zähne übrig, ihr Gesicht ist von Furchen und Falten gezeichnet. Nein, ein leichtes Leben kann sie nicht gehabt haben. Diese Alten gehören wirklich zu einer  „verlorenen“ Generation.

 

Ich nehme Abschied

Auf dem Weg zum Flughafen gehen mir die vier Tage Charkiw noch einmal durch den Kopf. Es gehört wohl zu den erstaunlichsten Erfahrungen, die ich in den 26 Jahren in der Ukraine gemacht habe, dass ich als Deutscher persönlich nie auf Hass oder Feindschaft gestoßen bin, denn in nahezu jeder Familie wurden Angehörige Opfer des deutschen Überfalls“. Es ist klar, dass so ein Land nicht von heute auf morgen zu sich kommen und sich von all dem,  was es in den vergangenen Jahrzehnten durchgemacht hat, erholen kann. Doch trotz aller Hoffnungslosigkeit – die Ukraine ist dabei sich von Jahren staatlicher Lügen und Qualen zu befreien, das spürt man. Wir haben in nur wenigen Tagen so unendlich viel erlebt: So viele Begegnungen mit so unterschiedlichen Menschen und Schicksalen. Die Bürger dieser Stadt haben uns reich beschenkt und haben uns zugleich gelehrt, in welchem Zustand die Stadt wirklich ist. Von seiner Anziehung hat Charkiw für mich und meinen Mitstreitern durch diese Reise nichts verloren. Es sind und waren immer die einfachen Bürger dieses Landes, die uns angezogen haben und die auch weiterhin unsere Hilfe brauchen. Das hat sich nicht verändert. Ihre Offenheit und Gastfreundschaft, ihre Leidensfähigkeit mit der sie ihren schwierigen Lebensumständen ein kleines oder großes Stück Leben abtrotzen, haben uns schon immer beeindruckt. Warum auch sonst hätten ich und meine Freunde in den 26 Jahren viele Tage und Wochen hier verbringen sollen?

Betten auf dem Weg nach Charkiw

Ein Sattelzug mit Hilfsgütern für zwei Krankenhäuser startet am Wochenende wieder in Richtung Ukraine.  Damit setzt die AWO-Behringersdorf-Schwaig ihre Hilfe für die Not leidende Bevölkerung in der ukrainischen Stadt Charkiw fort. Gemeinsam mit ehrenamt-lichen Helfern der AWO, der Naturfreunde Lauf und Mitarbeitern der Firma Günther GmbH belädt Schwaigs Altbürgermeister Fritz Körber den LKW für zwei Krankenhäuser in Charkiw: 36 Krankenhaus-betten, 39 Nachttische, 36 neue Matratzen und medizinische Hilfsmittel. 

 

Im Februar 1992 fuhr der erste Hilfstransport des AWO-Ortsvereins in die Ukraine. Seitdem werden jedes Jahr Krankenhäuser und andere soziale Einrichtungen in Charkiw unterstützt. Über 2500 Krankenhausbetten wurden in dieser Zeit in Nürnbergs Partnerstadt transportiert. Die Betten waren in AWO-Einrichtungen und Krankenhäusern Mittelfrankens  durch modernere, elektrische ersetzt worden und hätten mit viel Aufwand entsorgt werden müssen. Körber, der die Verhältnisse in Charkiw durch seine zahlreichen Besuche kennt, weiß nur zu gut, dass dort Krankenhausbetten in sehr gutem Zustand noch sehr willkommen und begehrt sind.

 

Der Sattelzug der in diesen Tagen nach Charkiw rollt, ist bereits der dritte in den letzten beiden Monaten.  Von den Betten des AWO-Kreisverbandes aus dem AWO-Seniorenheim in Mimberg werden das Krankenhaus Nr. 25 und das Psychoneurologische Internat in Charkiw profitieren.

Krankenbetten für Charkiw

Krankenbetten werden dringend gebraucht - Hilfe ist auf dem Weg

Es ist wieder soweit, die Räder rollen wieder. 26 Krankenbetten, 27 neue Matratzen, Nachttische und Bettwäsche wurden am Bauhof der Gemeinde Schwaig für ein Lazarett in Charkiw in der Ukraine verladen. Aus einem Schreiben der vor zwei Monaten gegründeten gemeinnützigen Stiftung „Frieden und Ordnung“ in Charkiw an Fritz Körber geht hervor, dass die Lebenssituation in der Ukraine unverändert ernst ist und auf die Hilfsbereitschaft der AWO-Behringersdorf-Schwaig noch längst nicht verzichtet werden kann. Vor allem werden Funktionsbetten für ein Lazarett dringend gebraucht, um Unfallopfer und vor allem Verwundete mit Schussverletzungen aus dem Krisengebiet entsprechend versorgen zu können. Die Folgen der Gewalt spürt Charkiw, das an die zwei Kriegsgebiete grenzt, bereits seit Monaten. Ab Mai 2014 sind über 75.000 Flüchtlinge aus Donezk und Slawjansk nach Charkiw gekommen. Darunter sind aktuell allein 15.000 Personen die medizinische Leistungen in Anspruch genommen und rund 170 Frauen, die in den Entbindungsstationen der Kliniken in Charkiw versorgt werden müssen. Entmutigen lässt sich Körber übrigens auch von den schlechten Nachrichten nicht, die im Augenblick fast täglich aus der Ukraine kommen: Unabhängig von der Großwetterlage wird er mit seinen Transporten weitermachen.    

Flüchtlinge suchen in Charkiw Schutz

In Nürnbergs Partnerstadt suchen 75000 Flüchtlinge Schutz vor Gewalt

Von blutigen Kämpfen zwischen Separatisten und der Staatsmacht blieb Nürnbergs ukrainische Partnerstadt bisher verschont. Massiv betroffen ist sie allerdings von den Auswirkungen der Auseinandersetzungen in der Ostukraine. Rund 75000 Flüchtlinge haben seit Beginn der Kampfhandlungen in Donezk und Luhansk in Charkiw Schutz vor Gewalt und Not gesucht. Zirka 15000 von ihnen benötigten medizinische Behandlung, unter ihnen sind 737 Schwangere und Wöchnerinnen, berichtet Fritz Körber, wenige Tage nach seiner Rückkehr aus Charkiw. Schon immer hat Körber bei seinen Besuchen bedürftige Familien mit jeweils 30 bis 50 Euro ausgeholfen. Bei seinem jüngsten Besuch nun profitierten die jungen Frauen, die schwanger oder kurz nach der Entbindung aus der Ostukraine geflohen sind. 150 Wöchnerinnen erhielten daher aus seiner Hand jeweils 30 Euro; angesichts der enormen Geldentwertung in der Ukraine ein beachtlicher Zuschuss. Während Körber die Kuverts an die jungen Mütter verteilte, tauchte plötzlich eine kleine Delegation mit Urkunde und Orden auf. Der Vorsitzende des internationalen Kongresses zum Schutz der Menschenrechte und der Freiheit verlieh ihm die Urkunde für seine jahrelange Unterstützung der medizinischen und sozialen Einrichtungen der Stadt Charkiw. 

Der Armut ins Gesicht gesehen

Seit nunmehr 25 Jahren organisiert Fritz Körber als Vorsitzender der AWO-Behringersdorf-Schwaig Hilfstransporte nach Charkiw in die Ukraine

Bezirksrat a.D.  Fritz Körber und Vorsitzender der AWO-Behringersdorf-Schwaig berichtet von einer Reise mit Freunden nach Charkiw - Fünf Tage auf eigene Kosten in der Ukraine hinterließen tiefe Eindrücke – Leben am Existenzminimum - Armut, Elend – und kein Ende abzusehen.

 

Eintauchen in den ukrainischen Alltag

Es ist ein trüber Montagnachmittag, als das Flugzeug mit meinen Begleitern Dr. Hannes Zapf und Robert Knitt am Charkiwer Flughafen aufsetzt. Beide unterstützen seit Jahren unsere Aktion „Hilfe für Charkiw“ und reisen erstmals mit in die Ukraine. Der Wind, der in schneidender Kälte direkt aus Sibirien zu kommen scheint, treibt tanzende Schneeflocken über den halbfertigen Flugplatz. Schnell steigen wir in den bereitstehenden Bus der uns zum Flughafengebäude bringt. Dort haben die Stadtväter im Überschwang der Freude über die Fußball-Europameisterschaft 2012 eine moderne Flughafenhalle erstellt. Die Abfertigung durch den Zoll ist gegenüber früher erfreulicherweise beinahe nur Formsache.

 

Roland Seitz, Edgar Völkel und Heidi Ullmann, die bereits einige Tage früher nach Charkiw reisten, erwarten uns bereits. Auch unsere beiden Dolmetscher Ivan und Yvonne sind zum Empfang gekommen. Auf der Fahrt ins Hotel weihe ich Iwan in meine Pläne ein. Im klapprigen Bus führt uns der Weg über den Gagarin-Prospekt durch kilometerlange Wüsten sozialistischer Architektur, vorbei an frisch getünchten Häuserfronten, über schlechte Straßen bedeckt mit Streusand und durchzogen mit freiliegenden, scharfkantigen Trambahnschienen. „Bitte schön, da habt ihr unser Charkiw“, sagt Iwan mit leichtem Kopfnicken in Richtung der bröckelnden Wohnsilos und flucht bei jedem Schlagloch, das unser Fahrer übersieht. Lenin steht noch immer ziemlich alleine auf dem großen Platz vor der Universität und lautstark wirbt ein übergroßer Bildschirm an einer Hausfront für Luxusgüter aus der westlichen Welt. Ein mickriger Coca-Cola-Stand leistet beiden Gesellschaft. In Charkiw und der Ukraine ist diese merkwürdige kommunistisch-kapitalistische Allianz öfter anzutreffen.

 

Kurzer Aufenthalt im Hotel. Es ist vier Uhr nachmittags und wir gehen zu Fuß ins Nürnberger Haus, zu unserem ersten Termin mit Jugendlichen, die dort die deutsche Sprache erlernen. Diskret halten sich die jungen Leute zurück, sprechen meist leise und nur zögerlich kommt es zu einer offenen Diskussion. „Unsere Zukunft“, schwärmt Ina, „liegt in der Weltoffenheit – ich möchte einmal nach Deutschland reisen“. Deutschland – doch der Weg dorthin mag manchem in dieser Runde noch etwas weit erscheinen. Doch die Zeit drängt. Ich habe zum Abendessen eingeladen und alle sind gekommen. Das gemeinsame „Sastolje“ ist in der Ukraine mehr als eine Tafelrunde; das ist gewachsene Lebensweise, eine Philosophie des Zusammenhalts und des gemeinsamen Erzählens. „Sastolje“ ist  Ausdruck für Geselligkeit, gutes Essen und herzerwärmende Trinksprüche mit Wodka. Auf Kommando hin wird das Glas an die Lippen gehoben und zügig heruntergekippt. Wir Deutsche können in der Regel da nicht mithalten und werden mitleidig belächelt.

 

Hilfen für Menschen in bitterer Not

Der nächsten Morgen beginnt mit einer Art „Audienz“ im Hotel. Wie im Lauffeuer hat es sich herumgesprochen, der Fritz und seine Freunde sind wieder da. Einer gibt dem anderen die Klinke in die Hand. Awdüschew Schamiljewitsch bittet um Hilfe für den Kauf von Medikamenten. Alle vier Familienmitglieder sind an Tbc erkrankt. Er legt eine Art Loseblatt-Sammlung an Dokumenten vor. Ist die Scheu einmal weg, dann sprudelt es nur so. Natürlich sind wir im selben Moment auch Opfer und hören zur: „Es gibt nichts Demütigenderes als betteln zu müssen. Es ist eine Tragödie“ übersetzt mir Yvonne meine Dolmetscherin. Auch Frau Babajna, eine Mutter mit acht Kindern ist gekommen. „Bitte helfen sie mir und meinen Kindern. Uns geht es schlecht. Wir leben nicht, wir existieren nur. Keiner hilft uns, keiner fühlt sich für uns zuständig“. Wir geben einen Geldbetrag und viele Fragen und Antworten hat Yvonne zu übersetzen.

 

Zwischenzeitlich ist Iwan gekommen. Wir fahren zum Treffen mit der stellv. Oberbürgermeisterin Swetlana Gorbunowa-Ruban, Direktorin für Gesundheitswesen und soziale Fragen der Stadt. Zu unserer Überraschung stellen wir fest, dass uns bereits das ukrainische Fernsehen und einige Redakteure der Charkiwer Tagespresse erwarten. In einem kurzen Rückblick erinnert die Politikerin an die gute nun schon 20-jährige Zusammenarbeit mit der AWO-Behringersdorf-Schwaig. Sie berichtet über bereits durchgeführte Maßnahmen in den verschiedenen Einrichtungen der Stadt, bittet uns aber gleichzeitig um weitere Krankenbetten und Hilfsgüter. Aber auch die Laufer Naturfreunde kommen zu Wort. Roland Seitz und Edgar Völkel erinnern an die seit Jahren durchgeführten Ferienmaßnahmen für Charkiwer Kinder am Naturfreundehaus in Hormersdorf. Wir tauschen uns aus und geben im Anschluss den wartenden Journalisten ein Interview. Mit kleinen Erinnerungsgeschenken verlassen wir das Rathaus.

 

Die Zeit drängt. Abfahrt ins Kulturhaus der Miliz im Wohnbezirk Kyiwsky. Wir fahren zur Verteilung der finanziellen Hilfen an 150 bedürftige Familien. Sehsüchtig werden wir erwartet.  30 Euro enthält jedes Kuvert – eine halbe Monatsrente. Meine Begleiter verteilen nach Aufruf das Geld. Dankbar mit Tränen in den Augen nehmen sie unser Geschenk entgegen. Kaum hat jeder sein Kuvert, schart sich eine ständig wachsende Gruppe von Frauen und Männern um uns. Sie machen aus ihrem Unmut keinen Hehl: „Keine Arbeit, kein Geld, keine Aussicht auf ein Leben“. Ein unrasierter Mann erzählt aus seinem Leben: „Er arbeite den ganzen Tag, aber mehr als umgerechnet drei Euro bringe er nicht nach Hause“. Er hat zwei Kinder, ist Invalide und schafft es kaum, Geld für das tägliche Brot zu verdienen. Die anderen nicken. Plötzlich umarmt mich eine junge Frau. Tränen fließen. „Bitte helfen sie mir und meinem Kind“, übersetzt mir Iwan. Ich sage unsere Hilfe zu und bitte sie am nächsten Morgen ins Hotel zu kommen. In Charkiw wird diese soziale Kluft immer ausgeprägter, sagt Irina Tschernajewa, nebenbei. Auch ich erkenne keine Anzeichen dafür, dass sich die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung  entscheidend bessern würde; die Schar der Bedürftigen scheint im Gegenteil von Jahr zu Jahr noch zu wachsen.

 

Zeit zum Nachdenken bleibt nicht

Mit Verspätung kommen wir ins Sozialzentrum des Moskowskij Wohnbezirks. Nachdem im vergangenen Jahr aus finanziellen Gründen die Stadt die Armenküche schließen musste, hatten wir beschlossen, Essenspakete an die Ärmsten zu verteilen. Über 350 in Not geratene Bürger kamen in den Genuss. Wir sagen auch hier unsere Unterstützung zu und mit dem Geld der „Stiftung Helfende Herzen“ kann an den Ostertagen eine erneute Aktion gestartet werden. Ein alter Herr erzählt mir von strengen Zeiten und bittet mich beim Hinausgehen um weitere Unterstützung. Wir werden zum Mittagessen eingeladen. Unser Willkommenheißen, die Freude über die Begegnung und das erneute Gelingen des Projekts „Essenspakete“ gibt reichlich Anlässe das Glas zu erheben. Irina Mironenko, die Leiterin der Einrichtung spricht nicht deutsch. Herzlich werden wir verabschiedet. Ihre Geste ist leicht zu verstehen. Für mich ist diese Einrichtung ein Markt der Armen. Die Wohnblöcke in der Nachbarschaft sind im Zustand des Verfalls. Lieblos haben die Bauherren des Sozialismus sie dort hingeklotzt. Jetzt strafen sie die Stadt mit Bildern einer Untergangsstimmung.

 

Der Spätnachmittag bringt uns zu Valja Burduluk und ihren Sohn Bogdan ins Blindenheim. Schwer liegt auch hier der unaufhaltsame Verfall des Hauses auf der Familie und lähmt jede Aktivität. Es schmerzt diese Not zu sehen. Ich gebe Valja einen Geldbetrag für dort wo am Nötigsten. Diese schreckliche Armut, dieser Dreck, diese Hoffnungslosigkeit bedrückt und in mich gekehrt nehme ich Abschied. Eigentlich wäre entsprechend unseres Programms Freizeit angesagt. Doch Sergej Schadrin, erster Tenor aus der Oper, hat uns ins Konservatorium zu einem Konzert eingeladen. Dieses kulturelle Kontrastprogramm schafft zumindest etwas Ablenkung von den drastischen Eindrücken des Tages. Doch schon während der Pause verspüre ich fürchterlichen Hunger und bin dankbar, als wir uns gegen 21 Uhr in einem Selbstbedienungs-Restaurant mit Freunden zum Abendessen treffen. Müde und völlig ausgepowert komme ich erst spät ins Hotel zurück.

 

Wie lange noch halte ich das aus

Der nächste Tag beginnt wie alle Tage zuvor. Es ist kurz vor acht Uhr. Ich habe noch nicht gefrühstückt und schon sitzt der erste vor der Türe. Durch den Fernsehbeitrag in der „Charkiwer Abendschau“ hat es sich herumgesprochen, der Fritz ist wieder da. Auch die junge Frau vom Vortag ist mit ihrem Kind erschienen. Beim Anblick des Kindes ist es schwer die richtigen Worte zu finden. Das neun Monate alte Baby hat einen Tumor am Kopf und muss dringend operiert werden. Auch hier spüren wir die verzweifelte Hoffnung auf fremde Helfer. Ihre Bitte bleibt nicht ungehört, auch hier werden wir helfen. Mein Geld wird immer weniger. Nach einstündiger Beratung ist jeder Besucher mit seinem Anliegen zu Wort gekommen.

 

Für 9.30 Uhr ist ein Treffen im klinischen Bezirkskrankenhaus „Schnelle Hilfe“ mit Chefarzt Dr. Fedak vereinbart. Nach kurzer Vorstellung unserer kleinen Delegation werden wir über mehrere Etagen durchs Haus geführt. Mit Stolz zeigt man uns die neuen und modernen Operationsräume des über Eintausend-Bettenhauses und vergisst nicht, uns erneut um weitere Krankenbetten und medizinische Hilfsmittel zu bitten. Anschließender Besuch im städtischen Hospiz und Besichtigung der Abteilung für diabetische Osteoarthropathie. Mit Freude stellen wir fest, dass die gelieferten Betten und Hilfsgüter unseres letzten Konvois hier Platz gefunden haben und gute Dienste leisten. Unser nächstes Ziel ist die ambulante Kinderabteilung der Gebiets-TBC-Kinderklinik. Dr. Mankowski erwartet uns bereits. Wieder einmal sind wir in Zeitnot. Wir geben eine Spende für dringende Reparaturen an medizinischen Geräten und werden zu Tisch gebeten. Lebhaft wird über Gott und die Welt diskutiert; Toast um Toast wird ausgesprochen und auch an den im Jahre 2011 allzu früh verstorbenen Freund und Gönner Joe Mac Donald aus Glasgow gedacht.

 

Aufschlussreich ist der Termin bei der Behindertenorganisation „Spodivannja“ und ihrer Vorsitzenden. Aufgeregt erzählt die ältere Dame von ihren Schwierigkeiten, von der mangelnden Unterstützung seitens der Behörden, von ihrem Glauben, in den sie tief verwurzelt ist. Keine Anzeichen von Resignation oder fehlendem Lebenswillen spiegelt sich in ihren Worten wider, stattdessen ungebrochene Hoffnung für ihre 95 an den Rollstuhl gebundenen Mitglieder. Als wir darum bitten, ein Foto von ihr machen zu dürfen, verlangt sie zuvor nach einem Kamm; in ihrer schweren Situation hat sie eines niemals verloren: ihre Würde. Nach kurzer Beratung übergeben wir eine größere Geldspende und fühlen, dass uns diese Frau in ihrer schier ausweglosen Situation ein eindrucksvolles Beispiel an Mut und positiver Lebenseinstellung sein sollte. „Das ukrainische Leben ist für mich irrational. Das ist kein Urteilsspruch. Das Leben hier hat einfach eine andere Qualität als bei uns“. Über all das denke ich nach auf der Rückfahrt ins Hotel.

 

Doch der Tag ist noch nicht vorbei. Wir sind bei Familie Savenchuk am Stadtrand zum Abendessen eingeladen. Die Anfahrt für den Taxifahrer ist mehr als beschwerlich. Vor längerer Zeit hatte man offensichtlich eine Straße bauen wollen. Auf dem Weg waren Betonhaufen aufgeschüttet worden. Fertiggebaut wurde diese Straße nie. Und die achtlos liegengelassenen Betonhaufen bilden jetzt einen Hindernisparcours, auf dem man wie über Hügel fahren muss“. Doch die überwältigende Gastfreundschaft in dem kleinen Haus übertrifft alles.

 

Der nächste Tag beginnt wie alle anderen. Schon vor acht Uhr kommen die ersten Bittsteller ins Hotel. Es ist eine Tragödie die kein Ende nimmt und ich stelle mir die Frage: „Wie lange noch reicht mein Geld“? Nach einem kurzen Frühstück Abfahrt ins Zentrum „Promin“, eine Einrichtung für geistig behinderte Kinder. Von der Aufgabenstellung vergleichbar mit unserer Lebenshilfe. Die Stadt sorgt hier lediglich für das marode Gebäude. Die sonstige Finanzierung muss durch die Organisation selbst aufgebracht werden. Auch hier übergeben wir einen Geldbetrag der AWO. Schon während der Besichtung der Einrichtung ist „Lonia“ mit seinem klapprigen Ford-Transit vorgefahren, der uns nach Rakitnoje bringen soll. Auf der Fahrt dorthin, kurzer Besuch in der Schule der kleinen Landgemeinde Kommerowka. Auch hier werden wir um Unterstützung gebeten.

 

Ein Leben wie aus einer anderen Zeit

Rakitnoje – unsere Anfahrt erfolgt über die „Sowjetskaja“, die Hauptstraße des Ortes. Ein Gotteshaus, zwei zugenagelte Ruinen, ein schäbiger Laden, ein blauer Container der als Kiosk dient, das Schulhaus und ein Kriegerdenkmal umrahmen den Dorfplatz. Wieder einmal kommen wir über eine Stunde zu spät. Trotzdem werden wir in der Schule freudig erwartet. Der Bürgermeister, die Rektorin und die Kinder der Schule empfangen uns unter dem Klang der deutschen und ukrainischen Nationalhymnen. Ich übergebe einen Spendenbetrag der Grundschule Neunkirchen am Sand und nach Vorträgen der Kinder, den üblichen Reden und dem Austausch der Geschenke geht es ins so genannte „Dorfcafe“ zum offiziellen Empfang. Laut geht es zu, Tischreden werden gehalten und mit Wodka stoßen unsere Gastgeber immer wieder auf „na druschbo“ auf die Freundschaft an. Im Anschluss kurzer Besuch und Kaffeetrinken bei Konstantin Gorban dem früheren Bürgermeister und Luba Prima die ehemalige Rektorin. Erinnerungen werden ausgetauscht. Beim Abschiednehmen bleibe ich stehen, bin überwältigt von dem, was ich sehe. Nichts, absolut nichts Außergewöhnliches. Nur Dreck, nur eine hoffnungslos dreckige Welt. Es ist einfach zum Heulen. Auf der Rückfahrt nach Charkiw über den neuen Autobahnring ins Stadtzentrum nehme ich mit einer gewissen Verwunderung all die neuen Bauten zur Kenntnis. Vor allem dann, wenn ich sie mit den Bildern und Erinnerungen früherer Jahre vergleiche und die mir nicht aus dem Kopf gehen wollen.

 

 

Dicht an dicht im Zwiegespräch mit Gott

Wir haben eine Stunde Freizeit und besuchen die orthodoxe Messe im Pokrowsky-Kloster. Stehend und staunend erleben Dr. Hannes Zapf, Robert Knitt und ich die Inbrunst, mit der hier gewirtschaftet wird. Kreuze küssen, Kreuze auflegen, Kreuzzeichen machen, unaufhörlich sich verbeugen und Sünden leiern, dicke Bücher aufschlagen und zuschlagen, sie vorlesen und vorsingen, die baldige Ankunft des Herrn zusagen und immer beten und bitten: um Erbarmen, um Erlösung, ein ewiges Leben, für alle, für jeden und über allen und allem: für den Metropoliten, den allerheiligsten Patriarchen. Kopekenkerzen knistern und überall Ikonen, irdische Himmelsfenster, aus denen dunkel die Heiligen blicken. Herr, erbarme dich, flehen die Stimmen des kleinen Chores. Über all das Gesehene denke ich beim Hinausgehen nach.

 

Gegen 20.00 Uhr haben Robert Knitt und Dr. Hannes Zapf im Selbstbedienungs-Restaurant zu einem Treffen mit Jugendlichen aus dem Nürnberger Haus geladen. Beide sind in ihrem Element, denn viele habe ihre Einladung angenommen. Ukrainische, englische und deutsche Wortfetzen bestimmen die Diskussion und Adressen werden ausgetauscht.

 

Es ist ein ganz normaler Morgen. Die Koffer sind gepackt und unser erster Termin ist bei Sascha Chmeljow, dem Apotheker, der bei einem Unglück beide Beine verlor und der über Spenden der AWO in Deutschland hochwertige Prothesen erhielt. Noch heute finden er und seine Familie kaum Worte für ihre Dankbarkeit. Bei stürmischem Wind und Regenschauern besuchen wir im Anschluss die kleine Behinderteneinrichtung „Bíatron“. Mit viel Geschick und großem Engagement wird hier gestickt und kunstgewerblich gearbeitet. Auch hier geben wir eine Spende für dort wo am Nötigsten. Jeder von uns erhält ein Geschenk und nur mit Mühe können wir uns loseisen.

 

Iwan unser Dolmetscher gibt das Tempo vor. Begeisterter Empfang unter Livemusik in der Armenküche „Skripka“ Durch die alljährliche Spende der „Stiftung Helfende Herzen“ stellt die AWO-Behringersdorf-Schwaig für alte, kranke und minderbemittelte Bürger der Stadt Charkiw täglich kostenlos ein Mittagessen zur Verfügung. Einige Besucher kenne ich bereits die in der Schlange stehen. Auch kenne ich den Geruch der Armut der aus ihren Mänteln kriecht. Zahlreiche Dankesworte und Wünsche nehmen wir entgegen, bezahlen 2000 Euro für das kommende Quartal und werden zum Mittagessen eingeladen. Nach den üblichen Tischreden brechen wir zum Flugplatz auf.

 

Der Abschied ist kurz und wenige Minuten später sitzen wir im Flugzeug. Unser Aufbruch in Schwaig liegt nur fünf Tage zurück. Dazwischen liegt ein Bilderbogen, gewebt aus Erinnerungen, aus Eindrücken, Gedankensplittern und Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen. Und ich stelle mir die Frage: Liegt nicht eine ungute „Aura“ von Aggressivität, Erschöpfung und Verzweiflung über dieser Stadt? Sind doch fast gleichzeitig auf den Straßen Bettler mit aufgehaltener Hand  und teuere Westautos zu sehen. Diese Autos gehören einer neuen Klasse von Bankern und Besitzern von Privatunternehmen. Mit der Eröffnung neuer Hotels und überteuerten privaten Restaurants für die bevorstehende Fußball-Europameisterschaft 2012 wird Charkiw derzeit wesentlich schneller beglückt, als mit der Errichtung von Kantinen und Armenküchen, in denen mittellose alte Menschen umsonst essen können.   

 

Spenden kann man unter dem Stichwort „Hilfe für Charkiw“ auf das Konto der

AWO-Behringersdorf-Schwaig Kto. Nr. 240 251 785, BLT 760 501 01